Lydia Koidula (* 12. Dezemberjul. / 24. Dezember 1843greg. in Vändra; † 30. Julijul. / 11. August 1886greg. in Kronstadt) war eine estnische Lyrikerin und Dramatikerin.Ihr Geburtsname lautete Lidia Emilie Florentine Jannsen und sie war das erste Kind aus der Ehe von Johann Voldemar Jannsen und Annette Julia Emilie Koch. Sie ging zuerst bei ihrem Vater in Vändra und ab 1850 in Pärnu zur Schule. 1854 trat sie in das Pärnuer Mädchengymnasium ein, wo Lilli Suburg eine ihrer Schulkameradinnen war.
1861 beendete sie die Schule und absolvierte danach an der Universität Tartu das Examen für Hauslehrerinnen. Statt als eine solche zu arbeiten, stieg sie jedoch bei ihrem Vater in der Redaktion ein. 1863 zog die Familie nach Tartu, wo ihr Vater die 1857 gegründete Zeitung Perno Postimees als Eesti Postimees fortsetzte und Koidula neben ihrem Vater die wichtigste Gestalterin dieser für die estnische Nationalbewegung bedeutenden Zeitung wurde.
1871 unternahm sie mit ihrem Vater und ihrem Bruder Harry Jannsen eine Reise nach Helsinki, wo sie unter anderem auch den finnischen Schriftsteller und Journalisten Antti Almberg (ab 1906 Jalava) traf. Sie hatten bereits in Briefkontakt gestanden und setzten den Briefwechsel danach intensiv fort.] Man kann davon ausgehen, dass Koidula gerne eine Ehe mit Almberg eingegangen wäre, aber dieser bat nicht um ihre Hand.
1873 heiratete sie den germanisierten Letten Eduard Michelson und zog mit ihm nach Kronstadt, wo ihr Mann eine Stellung als Militärarzt erhalten hatte. Ihr Kontakt zu Estland riss dadurch nicht ab, aber ihre Beteiligung am estnischen Kulturleben reduzierte sich notgedrungen stark.
1876 erhielt ihr Mann ein Stipendium für eine Studienreise und Koidula nutzte die Möglichkeit, ihn auf dieser anderthalbjährigen Reise mit ihrem ersten Sohn zu begleiten, während die vier Monate alte Tochter zu Hause bei den Großeltern blieb. Auf diese Weise bereiste sie Breslau, Straßburg, Freiburg und Wien.] In der österreichischen Hauptstadt kam ihre zweite Tochter zur Welt (vgl. hierzu die Novelle.
1880 übernahm Koidula noch einmal kurz die Leitung der Zeitung in Tartu, nachdem ihr Vater einen Schlaganfall erlitten hatte. 1882 wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert, und das letzte Jahr war für sie nur noch mit Opium zu ertragen. Lydia Koidula starb 1886 und wurde in Kronstadt begraben. Erst zu ihrem 60. Todestag gelangte ihre Asche nach Tallinn.
Ihre ersten Gedichte verfasste die herangehende Autorin 1857 noch auf Deutsch. Das war im damaligen Estland, wo die gesamte höhere Schulbildung auf Deutsch stattfand, normal. Koidulas erstes estnisches Gedicht erschien erst 1865 unter dem Pseudonym „L.“ im Postimees. Es ist bis heute eines der bekanntesten Gedichte von Koidula und jedem estnischen Schulkind bekannt. Es ist auch mehrfach ins Deutsche übersetzt worden, unter anderem 1924 von Carl Hunnius:
Am Dorfwegrand
Wie lieb war’s dort am Dorfwegrand,
Wir Kinder kannten ihn,
Wo alles voller Taugras stand
Hinauf bis zu den Knien;
Wo in der Abendröte Brand
In blum’ger Rasenpracht
Ich spielte, bis Grossvaters Hand
Sein Kind zur Ruh gebracht. –
Wie gern zu gucken über’n Zaun
Wär‘ ich gleich ihm bereit, –
Er aber sprach: „Kind, warte, traun –
Auch dir kommt noch die Zeit!“
Sie kam, ach – vieles ward mir klar,
Ich sah‘ manch‘ Meer und Land,
Nicht halb so lieb mir all‘ das war,
Als dort der Dorfwegrand.[11]
Danach veröffentlichte Koidula regelmäßig Gedichte und 1866 erschien – anonym – in Kuressaare ihre erste Gedichtsammlung, Waino-Lilled (‚Feldblumen‘). Auch hier waren von den insgesamt 34 Gedichten nur fünf Originalgedichte, alle anderen waren Übertragungen oder freiere Nachdichtungen von deutschen Gedichten, die sie vor allem ihren Deutsch-Lesebüchern aus der Schule entnommen hatte.
Ein Jahr später kam in Tartu die zweite Sammlung von Koidula heraus, deren Titel Emmajöe öpik (in heutiger Orthographie Emajõe ööbik) für ihren heutigen Beinamen sorgte: Als „Nachtigall vom Emajõgi“, d. i. der durch Tartu fließende Fluss, wird die Dichterin heute gerne bezeichnet. Immer noch gab es deutsche Vorbilder, an denen sich Koidula bei ihrer Vaterlandslyrik orientierte. Wenn es beispielsweise bei August Heinrich Hoffmann von Fallersleben hieß Nur in Deutschland, / Da muß mein Schätzlein wohnen (aus dem Gedicht Nur in Deutschland!), schrieb Koidula Eine estnische Braut und einen estnischen Bräutigam, / nur die will ich preisen (im Gedicht Kaugelt koju tulles (Aus der Ferne nach Hause kommend))
Insgesamt war diese Sammlung, die 45 Gedichte enthielt, aber wesentlich eigenständiger als die Debütsammlung. Hier thematisierte sie die Liebe zu ihrer Heimat, die Sprache des Landes und die Treue zu ihm. Sehr bekannt geworden ist das folgende Gedicht:
Sind surmani küll tahan
Ma kalliks pidada,
Mo õitsev Eesti rada,
Mo lehkav isamaa!
Mo Eesti vainud, jõed
Ja minu emakeel,
Teid kõrgeks kiita tahan
Ma surmatunnil veel!
(Deutsche Interlinearübersetzung: Bis zum Tode will ich / dich in Ehren halten / mein blühender estnischer Pfad, / mein duftendes Vaterland! / Meine estnischen Felder, Flüsse / und meine Muttersprache / Euch will ich hochloben / noch in meiner Todesstunde!)
Durch ihre persönlichen Lebensumstände publizierte Koidula zu Lebzeiten keine weiteren Gedichtbände, aber sie verstummte keineswegs. Sie dichtete weiterhin, so dass ihr Gesamtwerk auf über 300 Gedichte anwuchs. Nur ein Viertel war in den beiden Gedichtsammlungen publiziert worden, ein weiteres Viertel war verstreut in Zeitungen abgedruckt worden. Die Hälfte ist jedoch erst nach ihrem Tode veröffentlicht worden.
Trotz der relativ wenigen Buchveröffentlichungen zu Lebzeiten wurden Koidulas Gedichte schnell bekannt und populär, weil sie immer wieder in Schulbüchern abgedruckt wurden. Entscheidenden Anteil haben hier die populären Schulbücher von Carl Robert Jakobson. Er war es auch, der den Dichternamen Koidula, in Anlehnung an das estnische Wort koit, das ‚Morgenröte‘ bedeutet, vorschlug.
Neben Jakobson hatte Koidula auch intensiven Kontakt mit Friedrich Reinhold Kreutzwald, dem Verfasser des estnischen Nationalepos Kalevipoeg. In ihrem Briefwechsel, der streckenweise noch auf Deutsch geführt ist, diskutierten sie über die Möglichkeiten der estnischen Lyrik.
Koidulas Porträt war von 1992 bis 2010 auf der estnischen Banknote zu 100 Kronen abgebildet, welche bis zur Einführung des Euro 2011 Gültigkeit hatte. Darauf ist ein Teil eines Gedichts in ihrer Handschrift abgebildet.
Der estnische Schriftsteller Mati Unt schrieb 1984 das Schauspiel Vaimude tund Jannseni tänaval (‚Geisterstunde in der Jannsenstraße‘), in dem er Lydia Koidula und ihre finnische Biographin Aino Kallas, die nie einander getroffen haben, gemeinsam auftreten lässt.
Viele Gedichte Koidulas sind vertont und gehören heute zum allgemein bekannten Liedrepertoire der Esten. Während der Sowjetzeit, als die estnische Nationalhymne verboten war, wurde ein von Gustav Ernesaks vertontes Gedicht von Koidula, Mu isamaa on minu arm (‚Mein Vaterland ist meine Liebe‘), zur „heimlichen“ Nationalhymne.